Leseprobe »Das unendliche Licht«

„Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß,
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.“
Der Zauberlehrling

Moorgeister
Das Irrlicht tanzte in silbernen Schein des Vollmonds. Von weitem hätte man es für ein Glühwürmchen oder die Laterne eines einsamen Torfstechers halten können. Doch je näher es kam, desto mehr enthüllte sich in der Dämmerung eine lodernde Gestalt mit spindeldürren Armen und Beinen, deren Haupt von einer wabernden Lohe umrahmt wurde. Zögernd tänzelte das Irrlicht mal hierhin, mal dorthin. Dann huschte es im Zickzack über die trügerischen Tümpel hinweg auf die Quelle der Flötenmelodie zu, die wehmütig über dem Moor schwebte.
Kai pustete sich aufgeregt eine Strähne seines schwarzen Haars aus der Stirn und duckte sich noch tiefer hinter das Schilf, das ihm und seiner Großmutter als Versteck diente. Dummerweise waren seine Stiefel bereits bis zum Schaft im Morast eingesunken und so wurde die Bewegung von einem dumpfen Schmatzen begleitet. Gequält verzog der Junge sein Gesicht. Er konnte nur hoffen, dass das Geräusch von dem Wind geschluckt wurde, der säuselnd über die unheimliche Ödnis strich.

Irrlichter waren scheu.
Seine Großmutter schien nichts bemerkt zu haben. Die erfahrene Irrlichtjägerin kauerte ruhig neben ihm und konzentrierte sich ganz auf das Spiel ihrer Schwanenbeinflöte. Die Tonfolge wurde noch melancholischer und schwermütiger. Irrlichter wurden von traurigen Melodien angelockt. Dieses Wissen gehörte zu den Geheimnissen der Irrlichtjäger.
Warum dies so war, konnte kein Irrlichtjäger so genau sagen. Man fragte ja auch nicht, warum Gespenster vorzugsweise um Mitternacht spukten oder warum Gnome lieber unter Wurzeln oder in Erdhöhlen lebten, statt sich anständige Unterkünfte zu bauen.
Im Moment war Kai das jedoch egal. Denn wenn er nicht bald aufstehen durfte, würden seine Stiefel mit Wasser voll laufen. Sollte das passieren, würden die folgenden Stunden noch ungemütlicher werden als die vorangegangenen.
Dennoch wagte er es nicht, sich zu rühren. Keinesfalls durfte ihm ein weiterer Fehler wie eben passieren. Ein Irrlichtjäger musste sich in Geduld üben können. Das Irrlicht da vorn war zwar ein recht dummes Geschöpf, aber wenn es sie bemerkte, würde es seine Artgenossen warnen. In diesem Fall konnten sie ihre Ausrüstung gleich wieder zusammenpacken und nach Hause gehen. Dazu durfte es nicht kommen. Nicht an einem Abend wie diesem. Schließlich wollte Kai heute zum ersten Mal selbst ein Irrlicht fangen.

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