Leseprobe »Meister Calamitas` erstaunliche Kuriositäten«

»Bitte, Großvater. Erzähl uns noch einmal, warum wir hier in Tannfurt jeden Winter das Lichterfest feiern.«
»Du meine Güte«, brummte der alte Mann in gespielter Entrüstung. »Langweilt euch die Geschichte nicht bereits?« Ohne sich von seinen Enkelkindern beirren zu lassen, entzündete er die letzte von zwölf bernsteinfarbenen Kerzen. Die schlanken Gebilde steckten in einer mit Sand gefüllten Schale auf der Fensterbank und tauchten die Wohnstube mit ihren Flammen in einen heimeligen Schein.
»Och bitte«, bettelte Rowen. Der Siebenjährige trat mit flehendem Gesichtsausdruck neben den Greis. »Keiner im Ort erzählt die Geschichte so wie du, Großvater.«
»Ach, ist dem so?« Der Alte fuhr seinem Enkel amüsiert durch das zerstrubbelte Haar und warf einen letzten Blick durch die Butzenscheiben. Überall in Tannfurt wurde diese Nacht das Lichterfest gefeiert. Selbst in den Fenstern des nahen Rathauses war Kerzenschein zu sehen. Die vielen kleinen Flammen brachten den Schnee auf den Wegen zum Glitzern, brachen sich dutzendfach in den langen Eiszapfen, die wie gläserne Tropfsteine von den Dachfirsten  herabhingen, und ließen soeben zwei Nachtschwärmer innehalten, die sich verzückt zu den flackernden Lichtinseln umblickten.

»Ich habe euch die Geschichte doch schon letztes Jahr erzählt. Und auch all die Jahre zuvor.«
»Pah, Ira ist doch viel zu klein.“ Rowen deutete hinter sich zu seiner fünfjährigen Schwester, die ihre Hand ertappt aus einer Keksdose zog. »Die kann sich daran doch gar nicht mehr richtig erinnern.«
»Stimmt gar nicht«, krähte die Kleine beleidigt. »In Opas Geschichte geht es um Lampen und Zauberer. Deswegen feiern wir das  Lichterfest.«
»Oh Mann. Typisch Mädchen.« Rowen tippte sich theatralisch gegen die Stirn. »Ich sag doch, die weiß es nicht mehr.«
»Schon gut, schon gut.« Der alte Mann hob beschwichtigend die Hand, da seine Enkelin kurz davor stand, beleidigt in Tränen auszubrechen. »Natürlich erzähle ich euch die Geschichte. Welche Nacht wäre auch besser dazu geeignet, als diese?«
Rowen stieß einen Freudenschrei aus und hüpfte gemeinsam mit seiner Schwester auf die Eckbank des Esstisches, wo Ira und er in gespannter Erwartung zusammenrückten. Der Alte warf den Holzspan, mit dem er die Kerzen entzündet hatte, in den Kamin und nahm mit knackenden Gliedern zwischen den Kindern Platz. Die kleine Ira kuschelte sich an ihn und im Kerzenschein war zu sehen, dass ihre Wangen vor Aufregung bereits glühten.
»Tja, wo beginne ich bloß?“, hub ihr Großvater langatmig an.

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