»Na, wo wohl?«, unterbrach ihn Rowen ungeduldig. »Bei dem Dieb natürlich. Die Geschichte fängt doch immer mit dem Dieb an.«
»Richtig. Bei dem Dieb«, stimmte ihm der Alte zu und senkte verschwörerisch die Stimme. »Aber der Junge, von dem die Geschichte handelt, war kein gewöhnlicher Dieb. Die Not zwang ihn zum stehlen. Denn in jener Nacht vor nunmehr 67 Jahren, als sich jenes Ereignis zutrug, dessen wir heute noch gedenken, herrschte großes Elend im ganzen Land. Der König hatte einige Jahre zuvor zu den Waffen gerufen, um seinen jüngeren Bruder niederzuzwingen, der gemeinsam mit einigen Reichsverrätern den Thron an sich reißen wollte. Der Bruderkrieg überzog das Reich mit schrecklichen Schlachten und noch heute gilt der ‚Krieg der zwei Könige’ als der schlimmste  Konflikt seit dem Einfall der Riesen vor 300 Jahren. Doch keinem der verfeindeten Brüder gelang es, die Oberhand zu gewinnen. Schließlich warben beide Seiten Zauberer, Söldner und trickreiche Handwerker aus allen Teilen des Landes an, um den Krieg – wenn schon nicht mit roher Gewalt – so doch mit List, Magie und Erfindungsreichtum zu gewinnen. In Tannfurt selbst wurde zwar nie eine Schlacht ausgetragen, doch die Auswirkungen des Krieges waren auch hier zu spüren. Die Nahrungsmittel wurden von Jahr zu Jahr knapper, Flüchtlinge aus fremden Provinzen drängten in die Stadt und immer wieder verschwanden von einem Tag zum anderen

Familienväter, darunter gleichermaßen kräftige Burschen wie talentierte Handwerksmeister. Einige vermuteten, sie seien heimlich von der einen oder anderen Kriegspartei angeworben worden, doch die meisten waren davon überzeugt, dass sie schlicht entführt worden waren. Nur der Bürgermeister Tannfurts mochte derartige Verdächtigungen nicht offen aussprechen, schließlich wollte er nicht den Unmut einer der beiden Kriegsparteien auf die Stadt lenken. Und so kam es, dass die Stadt zunehmend ihre besten und klügsten Köpfe verlor. Familien verarmten und die Straßen füllten sich mit Bettlern.“ Der Alte blickte hinüber zu den vielen Kerzen auf der Fensterbank und sann seinen eigenen Worten nach. „Der Junge, von dem die Geschichte handelt«, hub er unvermittelt wieder an, »nennen wir ihn der Einfachheit halber Ivo, gehörte zu den Verlierern in Tannfurt. Sechzehn Sommer zählte er damals. Sein Vater hatte sich bereits wenige Jahre nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht und seine Mutter, die Ivo und dessen jüngere Schwester all die Jahre über mit Näharbeiten durchgebracht hatte, war drei Jahre zuvor an einem schlimmen Fieber gestorben. Doch in Tannfurt gab es niemanden, der für zwei hungrige Mäuler mehr hätte sorgen können. Und so war es nun an Ivo allein, für sich und seine Schwester zu sorgen. Ivo musste also stehlen, wollten die beiden nicht verhungern. Immerhin war Ivo nicht auf den Kopf gefallen«, ein feines Lächeln kräuselte die Lippen des Greisen.  

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