Leseprobe »Der Funke des Chronos«

„Es ist klar (...), daß jeder tatsächlich vorhandene Körper sich in vier Dimensionen ausdehnen muß: in Länge, Breite, Höhe und – in Dauer. Aber infolge einer angeborenen Unvollkommenheit unserer menschlichen Natur sind wir, wie ich Ihnen sogleich darlegen werde, geneigt, diese Tatsache zu übersehen. Tatsächlich gibt es vier Dimensionen, von denen wir drei die Ebenen des Raums nennen, und eine vierte, die Zeit.“
- Aus: Die Zeitmaschine, H.G. Wells

„Jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.“
- Heinrich Heine

Menetekel
Hamburg 1842, Nacht des 2. Mai, 0.04 Uhr

Die Knochen splitterten wie brüchiges Glas, als die Droschke über den Katzenkadaver rollte. Soeben läutete das Uhrwerk der Michaeliskirche zur zwölften Nachtstunde. Mit dem zweiten Glockenschlag wurde der ausgedörrte Tierleib emporgewirbelt und landete auf dem schmalen Trottoir der Admiralitätsstraße, die bis hinunter zum Schaarthor mit Abfällen übersät war. Seit Tagen schon lastete auf Hamburg eine für die Jahreszeit ungewöhnliche Hitze. Die Wärme hatte den Dreck auf den Wegen längst zu einem staubigen Gemenge gebacken. Doch noch immer wurden die Gassen, Gänge

und Twieten von jenem fauligen Geruch durchweht, der für die Hafenstadt so typisch war. Denn auch die Fleete und Kanäle, die die Elbmetropole wie Adern durchzogen und die von den Einwohnern Hamburgs so gern zur Entsorgung ihres Unrates genutzt wurden, hatten sich durch die Sonne erhitzt.
Polizeiaktuar Kettenburg war froh, dem Gestank der Gosse nicht unmittelbar ausgesetzt zu sein. Gleichwohl war es auch im Innenraum des Zweispänners unerträglich stickig. Er gestattete es sich, den steifen Kragen seiner Uniformjacke aufzuknöpfen, und lüpfte anschließend ein Taschentuch aus feiner Brüsseler Spitze, um sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Wie die meisten Bürger der Freien Reichsstadt hatte er darauf gehofft, daß es sich mit der Nacht abkühlen würde. Doch die schwache Brise, die mit Anbruch der Dämmerung aus Richtung Hafen eingesetzt hatte, schien den Kesseln der Dampfschiffe entstiegen zu sein, so warm war sie.
Von dem Tierkadaver, der in diesem Moment unter den Rädern der Droschke zermalen wurde, ahnte Kettenburg nichts. Der Polizeiaktuar hätte sich auch nicht weiter darum gekümmert. Sein Interesse galt einer anderen Leiche. Nachtwächter hatten sie eine Stunde zuvor im Labyrinth der Gassen nahe des Binnenhafens, im Südwesten der Stadt, entdeckt. Eigentlich haßte er es, zu solch später Stunde geweckt zu werden. Doch Hamburg wurde dieser Tage von einer Mordserie heimgesucht,

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