die in der Geschichte der Stadt beispiellos war. Sieben Tote galt es bislang zu beklagen: ein Mann, sechs Frauen. Zumindest soweit man wußte.
Vier der Leichen waren vor drei Wochen auf einem Schindanger vor den Wällen des Hornwerks entdeckt worden. Zwei weitere hatten Gassenjungen im Keller einer Hausruine am Brauerknechtgraben aufgespürt. Mitten im Kirchspiel Michaelis, dem Stadtteil um die St. Michaeliskirche herum. Und die letzte war vor drei Tagen bei der Elbwasserkunst nahe der Albertusschanze angespült worden. Ausgerechnet dort, wo man sich bemühte, die Stadt mit frischem Trinkwasser zu versorgen.
Daß die Sieben dem gleichen Täter zum Opfer gefallen waren, hatte man leicht ersehen können. Allesamt waren sie auf die gleiche bestialische Weise umgebracht worden. Kettenburg preßte die Lippen aufeinander, als er an den Anblick der Toten zurückdachte. Sicher würde ihm auch der neue Fund den Schlaf rauben.
Erwischt hatte es vor allem die Untersten in der städtischen Hierarchie: Gassennymphen und Buhlschwestern, wie die Huren Hamburgs genannt wurden. Mit anderen Worten: niemand, dem die Pfeffersäcke im Senat auch nur eine Träne nachweinten. Sicher hätte man der Mordserie bis heute nicht die ihr zustehende Beachtung gezollt, wäre da nicht der Tote vor der Elbwasserkunst gewesen. Er war nicht nur die einzige männliche Leiche, die sie gefunden hatten, er unterschied sich von den anderen Opfern auch durch seinen Stand. 

Man hatte ihn als Otto Benneke identifiziert, der Neffe einer der Erbgesessenen in der Hamburger Bürgerschaft. Erst durch ihn war die Mordserie zum Politikum geworden. Drei Tage bevor Benneke angespült worden war, hatte man den jungen Mann als vermißt gemeldet. Offenbar war er seinem Mörder bei einem nächtlichen Saufgelage auf dem Hamburger Berg in die Hände gelaufen, dem berüchtigten Vergnügungsviertel im neuen Stadtteil St. Pauli.
Kettenburg war daraufhin von Polizeisenator Binder höchstpersönlich beauftragt worden, den Fall aufzuklären; und zwar bevor sich die Morde in der Stadt herumsprechen konnten. Und, wie der Polizeiaktuar nur zu gut wußte, obwohl es nicht ausgesprochen worden war: bevor jemand die Frage stellen konnte, warum erst jetzt mit Nachdruck ermittelt wurde.
Hinzu kam die mögliche politische Dimension der Angelegenheit. In Jahren wie diesen mochte bereits ein Funke ausreichen, um einen Flächenbrand auszulösen, der sich weit über die Grenzen Hamburgs hinaus ausdehnen konnte. Der Pariser Aufstand vor zwölf Jahren hatte jedem in Europa deutlich gemacht, daß in Frankreich noch immer das Feuer der Revolution gärte. Burschenschaftler, Kommunisten und Liberale im ganzen Deutschen Bund hatten wieder Hoffnung geschöpft. Doch die Forderungen nach Schwurgerichten, Bauernbefreiung, Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit waren bis heute weitgehend unerfüllt geblieben.

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