Leseprobe »Der letzte Paladin«

»Du wirst fünf Gestirne schauen, die verschiedene Bahnen wandeln (…); von ihren leisesten Bewegungen hängt das Geschick der Völker ab, nach ihnen gestaltet sich das Größte, wie das Kleinste, je nachdem der Lauf des Gestirns ein günstiger oder ungünstiger gewesen.«
Lucius Annaeus Seneca – Trostschrift an Marcia

Prolog
Kalte Flammen loderten über die Wände des Sternenkerkers. Ein kosmischer Wind entfachte immer wieder aufs Neue das Feuer, das flackerte und knisterte, unaufhörlich gespeist von der Energie der Sterne. Und doch vermochte sein bläulicher Schein kaum, die Tiefen des Verlieses auszuleuchten.
Unten, im Halbdunkel, kauerte ein riesenhaftes Geschöpf. Wenn es wachte und aufsah, dann stach ihm das Sternenlicht schmerzhaft in die Augen. Dabei war das Wesen selbst einmal ein Stern gewesen, der hellste und mächtigste der Stellare. Auf seinen Befehl waren einst die Meere über die Ufer getreten. Sein Wort hatte genügt, um die Welt mit Feuersbrünsten und Wirbelstürmen zu verheeren.
Doch das war lange her. Jetzt war seine Macht gefesselt und sein Herz von Finsternis erfüllt.

All seine Gedanken kreisten um Rache.
In seinen Träumen stürzten seine verräterischen Geschwister, die Stellare, wie Meteore auf die Erde. Ihre brennenden Schwingen ließen das Sphärengefüge des Himmels erglühen. Verzweifelt flehten sie um Gnade, doch ihre Schreie verhallten ungehört im endlosen Raum jenseits des Sternenwalls.
Nein, er war noch nicht geschlagen.
Dereinst würde er eine neue Ordnung errichten.
So wachte und träumte er. Wachte und träumte, während die Jahrhunderte vergingen.
Doch eines Tages wurde er jäh aus dem Schlaf gerissen. Als er an den Flammenwänden des Kerkers hinaufblickte, dorthin, wo ein Teil des fernen Sternenwalls sichtbar war, spürte er schon die Veränderung.
In gespannter Erwartung erhob er seine Schwingen, und die Ketten aus Sternenstaub, mit denen er an die Kerkerwände gefesselt war, klirrten. Es waren fünf an der Zahl. Jede von ihnen war von einem der fünf Erzstellare geschmiedet worden, die heute an seiner statt über die Sphären herrschten. Als Wandelsterne zogen die mächtigsten seiner Brüder und Schwestern über den Himmel, und es verging keine Stunde, da nicht einer der fünf wachsam auf den Sternenkerker herabblickte.
Und doch schienen die Flammen an den Wänden des Verlieses an Kraft verloren zu haben.

Seite 1 von 6 »